Tuesday, October 20

Blick der Liebe

Diesen Blick der Liebe, wie Hermann Hesse ihn im Folgenden beschreibt, sollte nicht nur jeder Gelehrte seinem Studienobjekt, sondern jeder Tätige dem Objekt seines Tätigseins entgegenbringen:

"Im Augenblick, wo das Wollen ruht und die Betrachtung aufkommt, das reine Sehen und Hingegebensein, hört der Mensch auf, nützlich oder gefährlich zu sein, interessant oder langweilig, gütig oder roh, stark oder schwach. Er wird Natur, er wird schön und merkwürdig wie jedes Ding, auf das reine Betrachtung sich richtet. Denn Betrachtung ist ja nicht Forschung oder Kritik, sie ist nichts als Liebe. Sie ist der höchste und wünschenswerteste Zustand unserer Seele: begierdelose Liebe.
Haben wir diesen Zustand erreicht, es sei nun für Minuten, Stunden oder Tage (ihn immer innezuhalten wäre die vollkommene Seligkeit), dann sehen die Menschen anders aus als sonst. Sie sind nicht mehr Spiegel oder Zerrbilder unseres Wollens, sie sind wieder Natur geworden. Schön und hässlich, alt und jung, gütig und böse, offen und verschlossen, hart und weich sind keine Gegensätze, sind keine Maßstäbe mehr. Alle sind schön, alle sind merkwürdig, keiner mehr kann verachtet, kann gehasst, kann missverstanden werden."

Hermann Hesse, Propyläen 1918, Nr. 22

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